Das Tomatensaftmysterium

Autorin: Kathrin
16.06.2014

Kaum eine Frage wird in so regelmäßigem Turnus gestellt wie die Frage: Warum trinken die Menschen im Flugzeug soviel Tomatensaft? Es gibt die mannigfaltigsten Theorien, warum das Nachtschattenelexier in 10.000 Metern Höhe so beliebt ist. Die eine Seite argumentiert profan mit gesundheitlichen Aspekten: Tomatensaft verringert das Cholesterin, stimuliert das Immunsystem und wurde schon von Mayas und Inkas als Medizin verwand. Ein Glas des Gemüsetrunkes hilft bei Turbulenzen gegen Übelkeit – so es dann auch im Passagier und bei der Wackelei nicht nur auf dessen Garderobe landet – und ist ein altbewährtes Heilmittelchen gegen den Kater nach der erfolgten Abschiedsparty am Tag vor der Abreise. Tomatensaft soll sogar bei Durchfall als natürliches Elektrolyt helfen und sein roter Pflanzenfarbstoff Lycopin ist erwiesenermaßen krebsvorbeugend. Was für ein Teufelszeug!

1,5 Millionen Liter jährlich ausgeschenkter Tomatensaft an Bord von deutschen Flugzeugen sprechen für sich und unlängst haben Wissenschaftler im Auftrag einer großen Airline herausgefunden, warum dieses blutrote Getränk an Bord wirklich so begehrt ist: Der Niederdruck in der Kabine lässt die Geschmacks- und Geruchsnerven etwa so agieren wie bei einem mittelschweren Schnupfen und daher brauchen sie entsprechend mehr Stimulanz. Tomatensaft, der üblicherweise mit Salz, Pfeffer und Tabasco serviert wird, bedient diese Gelüste besser als ein öder Orangensaft oder eine süße Cola.

In meinen Augen ist das alles Quatsch.

Tomatensaft gehört für den Urlaubsreisenden zum Fliegen so wie das Popcorn zum Kinobesuch! Einfach mal was anderes trinken, als etwas vertrautes aus dem Kühlschrank daheim. Darüber hinaus ist das zu beobachtende Kettenbestellphänomen nicht von der Hand zu weisen: Kommt man bis Reihe 10, ohne T-Saft ausgeschenkt zu haben, reicht der Bestand meist auch noch für den Rückflug. Aber wehe in Reihe eins wurde der Wundersaft schon verlangt, dann werden die Bestände knapp! Tomatensaft hat etwas von einem Kinderüberraschungsei: Man hat was zum Spielen (Salz und Pfeffer auspacken, reinschütten, umrühren, Tabasco verlangen, zehn Spritzer reinhauen und zwei mal nachschenken lassen, weil es dann doch zu scharf war) und es macht in gewissen Maßen satt. Quasi eine kalte Tomatensuppe ohne Einlage. Bei 20 Gramm Chips oder 35 Gramm Schokowaffel als begleitende kulinarische Freiabgabe auf einer Ultrakurzstrecke ist dieser Aspekt sicher nicht zu verachten. Und bei läppischen 38 Kalorien pro Glas ist dieser Drinks ernährungs-physiologisch auch noch ein Schnapper!

Manche Vielflieger haben sich ganz pragmatisch für dieses Getränk entschieden, weil Alkohol zu schnell in den Kopf steigt, O-Saft Sodbrennen bei der körperlichen Origamistellung in der Economy verursacht und Softdrinks mit ihrer Kohlensäure banale Flatulenz und Rülpseritis verursachen. Übrig bleiben da nur noch stilles, geschmackloses Wasser oder ebenfalls blähender Apfelsaft. Nun denn. Ich finde Tomatensaft – übrigens das Wahrzeichen des Bundesstaates Ohio! – toll. Er sorgt immer wieder für erheiternde Wortspiele. „Ich hätte gerne eine Bloody Mary, aber ohne Wodka!“, (gerne, mit oder ohne Selleriestange?), „Tomate!“ (geschnitten oder am Stück?), „Flugzeug-Gazpacho!“ (Kein Problem, haben Sie Worchestershiresauce dabei?) oder „ich hätte gerne frisch gepressten Tomatensaft …“ (Kein Thema, Honey, ich habe noch drei Pfund sonnengereifter, frischgepflückter Strauchtomaten in der Galley liegen. Die werfe ich flink in den Vitamix. Dauert nur ein Augenblickchen …)
Ich kann an Bord ja so allerlei zaubern, sogar eine zünftige „Sangria“: O-saft, T-saft, Salz, Pfeffer, Tabasco, viel Eis und eventuell auch noch etwas Wein … Nur die Worchestershiresauce fehlt dann schon wieder. Da gefällt mir die klassische Bloody Mary doch schon besser. Sellerie wird im Flieger rigoros mit einem Stängel Petersilie ersetzt, dazu gibt es zum Umrühren einen schicken Cocktailpieker. Als der Drink 1921 in Harry’s New York Bar erfunden wurde, bestand er noch aus Teilen 1:1 Tomatensaft und Wodka … wir modifizieren ihn der dünnen Luft dann doch gerne ein wenig. Es sei denn, ein all zu quirliger Gast hätte eine vorzeitige Nachtruhe verdient.

Ich oute mich übrigens auch als leidenschaftlicher Tomatensafttrinker – ausnahmslos im Flugzeug. Aber warum? Mmmh …
Und mir fällt gerade auf, dass ich noch nie Tomatensaft ins Cockpit gebracht habe. Wie kann das sein? Mal drüber nachdenken …

Mysterium Tomatensaft – immer noch ungelöst!