Ikarus wäre neidisch

Autorin: Kathrin
29.06.2014

Letzte Woche stand ich mit Wiebke zusammen an der Barbox. Das ist diese große, 100 Kilo schwere Zauberkiste, in der sich früher hauptsächlich edle oder besonders günstige Düfte, Zigaretten, Alkohol und angesagte Plastikuhren befanden. Heutzutage tummeln sich dort hunderte von Artikeln: Bikinizonen-Trimmer, Reisewecker, Schmuck in allen Variationen, Strandbekleidung, Kinder-Disko CDs und vielerlei mehr.

Eigentlich gehört der Verkauf dieser Artikel nicht mehr zu meinem Aufgabenbereich, ich mache es aber dennoch gern und regelmäßig. Es wäre mir peinlich, wenn mich ein Gast fragt: „Haben Sie noch das Parfüm von dieser Tennisspielerin im Programm?“ und ich dann antworten müsste: „Oh, keine Ahnung, da muss ich mal eben ins Bordmagazin schauen“ oder „Warten Sie, ich frage kurz mal meine Kollegin“ und außerdem ergeben sich so immer wunderbare Momente, in denen man mit unseren Passagieren klönen kann. Es ist mitunter sehr zeitaufwändig, ein vier mal vier Zentimeter großes Schmuckkästchen aus gefühlten 500 Artikeln herauszukramen, zumal sich die Beladung auch ständig ändert. Aber da man immer zu zweit an einem Verkaufswagen steht, hat der „Nicht-Suchende“ dann Zeit für Konversation.

Wir waren auf diesem Flug schon fast am Ende unserer Sektion im hinteren Teil der Kabine angekommen. Wiebke wühlte emsig nach einem winzig kleinen homöopathischen Inhalationsstift, der sich hartnäckig irgendwo im Trolley versteckte, die Kollegin von gegenüber bat quer über die Mittelreihe um eine Doppelstange Zigaretten, der Gast links neben mir beäugte ausgiebigst eine Pilotenuhr und von hinten tippte mir jemand energisch auf die Schulter:
„Hallo? Können Sie das mal mitnehmen?“ Ein Passagier drückte mir grinsend einen Stapel gebrauchter Becher in die Hand. „Ich kriege zwei Tüten Gummibären und noch zwei Kaffee! Mit Milch und Zucker!“
Ich hab ja wirklich fast alles an meinem Verkaufswagen, aber leider keine Kaffeemaschine.
„Die muss ich Ihnen aus der Mitte holen, ich habe hier leider keine Gummibärchen mehr.
Dann kann ich Ihnen auch gleich den Kaffee mitbringen. Einen Moment bitte.“

In der mittleren Küche war ich in den letzten zehn Minuten schon drei Mal, einmal wegen Zigarillos, einmal wegen Schokolade und ein drittes Mal wegen einer Zigarettenmarke, die die Kollegen im Nachbargang auch nicht mehr auf ihrem Wagen hatten. Bei so vielen verschiedenen Artikeln nimmt man eben doch immer das Falsche mit. Der Herr, der bislang die Pilotenuhr geprüft hatte, hielt mir das Bordmagazin vor die Nase, noch bevor ich mich umdrehen und entschwinden konnte.
„Können Sie mir eben noch mal diese andere Uhr da zeigen, hier, schauen Sie mal!“
„Natürlich gern, ich komme gleich wieder.“
Als ich mit meinem beiden Tüten Gummibärchen und dem Kaffee wieder am Wagen erschien, das Weingummi kassierte und die zweite Uhr aus einer der Schubladen pfriemelte, meinte die Dame rechts neben mir, die ihre Beute – zwei aufblasbare Flugzeuge und eine Familienpackung Aloe Vera Gel – schon fest auf dem Schoss hielt:
„Sie sind um ihren Job ja auch wirklich nicht zu beneiden!“

Ich war im ersten Moment erstaunt: Nur weil ich ein paar Mal hin und her gerannt bin? Das hält doch prima in Form!
„Wie kommen Sie denn darauf?“, fragte ich vorsichtig nach.
„Na ja, hier ist alles so eng und so wackelig, dann dieses Gerenne, immer müssen Sie freundlich sein – das ist doch bestimmt furchtbar anstrengend?“

Ehrlich gesagt – nein. Anstrengend sind ganz andere Dinge: Morgens um 2.30 h aufstehen zum Beispiel. Das kann ich aus tiefster Seele hassen! Sich für Dinge entschuldigen zu müssen, für die man nichts kann: Schneesturm, Gewitter, Verspätung, überbuchte Maschine, Fluglotsenstreik, vermisster Passagier, unverhoffter Reifenwechsel am Flugzeug, Koffer verschwunden, Koffer zu sperrig oder warum es an Bord überhaupt verstellbare Rückenlehnen gibt. Jetlag, der einem tagelang hinterher krabbelt und den Kopf in Watte packt. Unmögliche Dienstpläne, die das soziale Umfeld auf ein Minimum reduzieren. Das ist in der Tat alles sehr anstrengend.

Aber jede Medaille hat zwei Seiten. Wenn ich überlege, was ich im letzten Vierteljahrhundert von der Welt gesehen habe, finde ich meinen Job schon ziemlich cool. Da bräuchte man normalerweise mindestens 100 Jahre Urlaub, um sich all das anzusehen, was ich auf meinen Reisen erleben durfte. Ich mag es, jeden Arbeitstag neue Menschen kennenzulernen. Mir gefällt die tägliche Aufgabe, innerhalb von 15 Minuten aus teilweise unbekannten Kolleginnen und Kollegen ein Team zu bilden und mit ihnen gemeinsam auf die Reise zu gehen. Dabei ist es eigentlich egal, ob der Flug nur kurz nach Palma oder einmal quer über den großen Teich geht. Ich fühle mich entgegen mancher Meinung weder als „fliegender Kellner“ noch als „Saftschubse“, auch wenn dem Duden dieses Unwort schon längst als Synonym für meine Tätigkeit über den Wolken einverleibt worden ist. Das Flugzeug ist mein Wohnzimmer, in dem bin ich der Gastgeber. Die Stimmung an Bord habe ich zu einem Großteil in der Hand und ich liebe die Herausforderung. Mein Ziel ist es, Gäste freundlich, sicher und kompetent von A nach B zu begleiten und ihnen auch – oder vielleicht vor allem – in widrigen Situationen das Gefühl zugeben, gut an Bord aufgehoben zu sein. Ich fühle mich nicht als Flugbegleitung, die nur existiert, weil der Gesetzgeber es gerne so hätte und die das Verteilen von Wurst- und Käsebrötchen als lästiges Übel betrachtet. Gäste zu empfangen, zu bewirten und zu betüddeln macht mir schlichtweg Spaß. Ob nun ein halbes Dutzend zu Hause oder 300 an Bord. Ich mag sogar ein wackelndes Flugzeug, weil ich es immer noch faszinierend finde, wie sich ein moderner Jet gnadenlos und unbeeindruckt durch das Wetter pflügt. Davon konnte Ikarus mit seinem zarten Federkleidchen damals nur träumen.

„Was sind Sie denn von Beruf?“, fragte ich vorsichtig meine Passagierin.
„Ich arbeite bei einer großen Versicherung“, erklärte sie mir mit strahlenden Augen. Na, wunderbar. Das ist für mich so ziemlich das trockenste, was man machen kann – im Büro mit Telefon, Unmengen von Papier und immer gleichen Kollegen zu kämpfen. Zum Glück sind die Geschmäcker verschieden und so ergänzen wir uns prima. Neid oder Bedauern sind da völlig überflüssig.

Worüber man sich im Klaren sein muss: Fliegen macht süchtig – einmal angefangen, kommt man nur schwer davon los. Aber die Ansteckungsgefahr scheint moderat zu sein, von sieben Kindern ist bislang nur eines mit dem Fliegervirus infiziert, ein zweites überlegt vielleicht doch noch in die Luft zu gehen. Zwei tendieren Richtung Büro … der Rest ist noch unschlüssig.

„Ich finde, jeder, der heutzutage einen Job hat, der ihm Spaß macht, ist zu beneiden“,
erklärte ich zwinkernd meiner Passagierin und löste die Bremse von unserem Trolley.
„Bordshop – Duty free … Möchte noch jemand etwas einkaufen?“