Mein erster Flug nach dem Unglück

Autorin: Kathrin
27.03.2015

Gestern hatte ich einen Einsatz nach Teneriffa. Ich fuhr morgens um 5.20 Uhr mit gemischten Gefühlen zum Düsseldorfer Flughafen, zwei Tage nach dem schrecklichen Absturz von Germanwings. Wie würden die Gäste drauf sein? Würden sie sich etwas anmerken lassen?

Wir besprachen nach unserem Briefing die besondere Situation. Eines meiner Crewmitglieder erzählte, dass am Vortag, also am Tag nach dem Unglück eine Kollegin von uns mit Germanwings von Berlin nach Düsseldorf proceedet (befördert worden) sei und nicht so recht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Drückte man sein Beileid zum Verlust der Kolleginnen und Kollegen aus? Sagte man gar nichts, um im Dienst keine Emotionen hochzuwühlen? Beim Einsteigen sahen sich beide Kolleginnen mit Tränen in den Augen an und nahmen sich einfach stumm in der vorderen Küche in den Arm. Die Passagiere an Bord applaudierten. Ein berührendes Beispiel, wie sehr sich die Fliegerwelt verbunden fühlt. Auch wenn der Markt von den einzelnen Airlines hart umkämpft ist, wir Flieger sind eine große Familie, völlig egal, was auf dem Leitwerk steht oder welche Uniform wir tragen.

Unsere Gäste boardeten pünktlich, die Maschine stand auf einer Außenposition und es fegte ein eisiger, nasskalter Wind bei 4 Grad über das Vorfeld. Die Stimmung war gedrückt, bemüht höflich, wobei ich versuchte einzuordnen, was auf das Konto schlechtes Wetter, frühes Aufstehen oder akutes Unwohlsein wegen Flugangst ging. Es war schwer einzuschätzen. In Reihe eins saßen drei Herrschaften Ende fünfzig. Die Dame auf 1 A sagte: „Oh, was für ein schöner Platz in der ersten Reihe!“ und lächelte. Ihr Begleiter antwortete grinsend: „Ja, toller Platz. Wir fliegen hier als erste gegen einen Berg.“
Vielleicht sollte es flapsig rüberkommen, ich fand es einfach nur geschmacklos, sagte aber nichts dazu. Direkt gegenüber meiner 2R Kollegin packte ein Passagier die Bildzeitung aus, die ganzseitig auf dem Titelblatt mit Trauerflor fragte „Warum?“, unterlegt mit einem Foto der Unglücksstelle, und begann interessiert zu lesen. Mir fiel ein, dass wir im Flugzeug immer akribisch darauf achteten, dass Flugzeugpostkarten immer mit der Nase nach oben in den Schaukästen zu stecken haben – angesichts der Schlagzeilen der Boulevardpresse schien dies an diesem Tag fast sekundär.
Ein Gast fragte beim Einsteigen:
„Ist das ein A320?“
„Nein, es ist ein A321.“
„Na, Gott sei Dank!“
Wenn auch sonst die Kommunikation mit den Gästen meine größte Leidenschaft ist, gestern fiel es mir zunächst sehr schwer. Das Flugzeug war mit vier Gästen überbucht, beim „Boarding completed“ hatten wir dann doch sechs freie Plätze. Wurde die Reise hier bewusst nicht angetreten oder war es der „übliche Schwund“ im Tagesgeschäft?

Ich hatte nicht mehr viel Zeit zum Grübeln, der Kapitän begrüßte in gewohnter Weise die Gäste mit einer Ansage und ich machte das gleiche wenig später. Ich zeigte den Film mit den Sicherheitsvorschriften und wenige Minuten später waren wir airborne.

Unsere Flugzeit – über vier Stunden – erlaubte uns ein entspanntes, gemütliches arbeiten, Zeit für ein paar persönliche Worte hier und da. Wenn unser kulinarisches Standardangebot auch nicht gerade Gourmetqualität hat, die Sandwiches sind durchaus genießbar, an diesem Morgen hatten allerdings überraschend viele Gäste keinen Appetit. Schnell stellte ich aber fest, dass die Passagiere sehr dankbar waren, für jedes persönliche Wort, jeden Scherz und jedes Zwinkern im Knopfloch, also für alles, was dem Leben an Bord eine selbstverständliche Leichtigkeit und Normalität verlieh. Nach dem ersten Servicedurchgang und einem kurzen Nickerchen waren die meisten Gäste „aufgetaut“ und relativ entspannt. Das Flugwetter meinte es gut mit uns, es gab nur wenige Hopser über Frankreich und um 12.25 h begannen wir mit dem Sinkflug auf Teneriffa Süd. Dieser dauerte nicht acht Minuten, sondern fünfundzwanzig, so wie es normal ist. Mir ging wieder der Flug der 4U9525 durch den Kopf, wie sich die Passagiere und vor allem die Crew wohl gefühlt haben mussten, bei dem Gedanken mitten über den Alpen runterzugehen. Haben sie bis zuletzt an eine normale Landung geglaubt? Die Besatzung wohl kaum. Sie werden gewusst haben, wo in etwa sie sich gerade befanden. Und natürlich werden sie den Sinkflug auch bemerkt haben, der kurz nach Erreichen der Reiseflughöhe völlig unplanmäßig war. Was wird ihnen durch den Kopf gegangen sein? Fand eine Kommunikation zwischen Cockpit und Kabine statt? Ich wäre sofort nach vorne gegangen und hätte gefragt was da los ist, natürlich vorausgesetzt, es hätte sonst keine Anzeichen für einen Notfall gegeben, wie zum Beispiel einen Druckabfall in der Kabine. Acht Minuten sind eine Ewigkeit, wenn man nur zum Abwarten verdammt ist. Was für ein Horrorszenario!

Das Ausfahren des Fahrwerkes riss mich aus meiner Grübelei und ich konzentrierte mich auf die Landung. Überpünktlich um 12.50 h setzten wir auf. Ich verabschiedete meine Gäste in den Urlaub und auf dem letzten Stück zur Parkposition überlegte ich schon, wie unsere rückfliegenden Gäste wohl gelaunt waren. Anders als die Düsseldorfer hatten sie keine Wahl, ob sie den Flug antreten würden oder nicht, wenn sie nicht gerade mit Schiff und Bahn nach Hause reisen wollten.

In der Bodenzeit erfuhren wir dann das Unglaubliche: Es soll sich zum Zeitpunkt des Unglückes nur ein Mann im Cockpit befunden haben, dem zweiten Piloten wurde der Zugang zum Cockpit verwehrt, offenbar ein Suizidversuch des Copiloten. Konnte das wirklich so gewesen sein? Wir, die Besatzung, waren geschockt. Ein Wirrwarr der Gefühle machte sich breit. Ein erster Gedanke war: Wie gut, das nichts mit der Maschine war, fliegen ist also sicher. Mein zweiter Gedanke war Wut: Wie konnte ein einzelner Mensch 149 Unschuldige mit in den Tod nehmen? Hätte es nicht gereicht gegen einen Baum zu fahren? Mein dritter Gedanke war Zweifel: Konnte das wirklich die Erklärung für dieses tragische Unglück sein?

Da wir fast eine halbe Stunde vor der geplanten Zeit in Teneriffa gelandet waren, hatte ich im Turnaround Zeit, die Zeitungen zu lesen, die die Gäste zurückgelassen hatten. Ich fand nur die Bild und den Express und war entsetzt über die sensationsgierige Berichterstattung. Selbstverständlich hatte man auch Fotos der Opfer abgedruckt, der Verlust der Kinder aus Haltern und die zwei verstorbenen Opernstars waren besonders beklagenswert und natürlich fanden sich auch Nachbarn und Bekannte, die bereitwillig Interviews gaben und der Trauer so ein Gesicht verliehen. Es war von ‚Unglücks-Airbus’, ‚Todesmaschine’ und dem ‚schwärzesten Tag in der deutschen Luftfahrt’ die Rede, die Boulevardpresse gab sich alle Mühe, die wenigen vorhandenen Informationen zu mehreren Seiten Horrorszenario auszuschlachten. Mir würde latent übel.

Die Gäste, die dann wenig später bei uns einstiegen, waren zum größten Teil über die neuesten Veröffentlichungen schon durch die Nachrichten und das Internet informiert. Wenn es auf einer Pressekonferenz veröffentlich worden ist, konnte es ja nur die Wahrheit sein. Der Copilot hat die Maschine also absichtlich gegen den Berg geflogen. Und damit war das Thema an Bord dann erstaunlicherweise durch.

Meine Mädels und ich ließen uns nichts anmerken. Die Passagiere waren fast durch die Bank gut gelaunt, vielleicht einfach auch nur erleichtert, dass es sich nicht um einen technischen sondern um einen menschlichen Defekt gehandelt hat. Der gesamte Rückflug wurde von einer fröhlichen Unbeschwertheit getragen, als wenn nichts vor zwei Tagen in den französischen Alpen geschehen wäre. Wir flachsten mit den Gästen herum, als gälte es einen Stewardessen-Comedy-Preis zu gewinnen, hörten uns etliche persönliche Geschichten von Gästen an, verteilten freundlich lächelnd Sandwiches, Getränke, Schokolade, Kinderspielzeug und dergleichen mehr und die Welt über den Wolken schien wieder in Ordnung – zumindest für den Moment. Nach der pünktlichen Landung in Düsseldorf verabschiedete ich unsere Passagiere mit einer letzten Ansage und bei dem Satz: … „ wir hoffen, dass sie sich heute bei uns an Bord wohlgefühlt haben…“ wurde bestätigend mitten in der Ansage geklatscht. Ich hatte einen Kloss im Hals und kam mir vor wie ein Schauspieler, der Beifall für seine erbrachte Leistung bekam. Wir waren also in der Lage trotz des Gefühlschaos in unserem Inneren die Gastgeberolle bestens zu erfüllen. So sieht wohl professionelles Auftreten aus.

Zuhause war ich erst nach 20 Uhr. Der Tag war lang und anstrengend, ein emotionales auf und ab. Endlich Zeit für mich, persönlich in den Nachrichten zu stöbern anstatt es aus zweiter und dritter Hand zu erfahren. Ich schaute die Berichte auf N-TV, hörte dem Lufthansa Chef und dem Schulleiter zu, wunderte mich über die etlichen Fachkräfte aus dem Bereich Luftfahrt, die zu Interviewzwecken in die Studios geladen wurden, schaute die Beiträge der Reporter vor Ort und je mehr ich sah, desto mehr widerte mich das Ganze an. Ich bekam immer mehr das Gefühl, dass hier auf Biegen und Brechen ein Sündenbock gesucht und ratzfatz gefunden worden ist. Der Copilot wird wie ein Monster an den Pranger gestellt, sein Elternhaus wird veröffentlicht, sein voller Name, sein Werdegang, sein ganzes bisheriges kurzes Leben. Seine Wohnung wurde akribisch durchsucht, vier Kisten „Beweismaterial“ wurden sichergestellt und die Staatsanwaltschaft gab trocken-sachlich Auskunft, dass es mit fundierten Aussagen und Informationen noch dauern würde. Aber alle schreien schon mal, dass der Copilot ein Massenmörder ist, ein ‚Amokpilot’, wie die Bildzeitung heute titelt. Wie furchtbar mögen sich wohl seine Eltern fühlen? Sind sie ihres Lebens eigentlich noch sicher? Könnten sie nicht bedroht sein, durch andere hysterische Menschen, oder gar durch Nahestehende der Opfer? Ich erinnere da an den Bodenseefall.

Sicher ist die Frage nach dem Warum der Katastrophe etwas, das uns alle bewegt und quält, die Angehörigen und Hinterbliebenen der Opfer am allermeisten, aber auch uns, die wir unsere Brötchen in der Luftfahrt verdienen. Um so schlimmer finde ich diese menschenverachtende Berichterstattung der Medien. Mitanzusehen wie jede noch so kleine Kleinigkeit ausgeschlachtet wird, um eine fragwürdige Lösung präsentieren zu können, macht mich wütend, aber nicht sprachlos. Der BR2 rief mich schon am Vortag an, um zu fragen, ob ich nicht spontan als Telefongast in einer Sondersendung Auskunft geben könnte, wie mich das Unglück in meinem Job beeinflussen und ich in der nächsten Zeit mit ängstlichen Passagieren umgehen würde. Ich habe freundlich abgelehnt. Meine Gefühle muss ich nicht auch noch der Öffentlichkeit präsentieren, dachte ich.

Nun tue ich das mit diesem Post ja nun doch irgendwie. Es ist mir ein Anliegen, das Handeln der Presse und der Medien zu hinterfragen. Unsere Bundeskanzlerin kann ich noch nicht einmal ernst nehmen, wenn sie ihre Beileidsbekundungen von einem Zettel abliest. Ist sie so wenig Profi, dass sie ehrliche Anteilnahme und Betroffenheit nicht frei formulieren kann? Da kommen der Chef der Lufthansa und von Germanwings wesentlich glaubwürdiger daher. Und wenn man den Konsens aus ihren Aussagen zieht, dann bleibt da wenig übrig, um die „Amokpilot-Theorie“ mit Fakten zu füttern. Ist mal überlegt worden, ob der junge Mann vielleicht einen Schlaganfall hatte und aus Versehen den Hebel zur Türentriegelung falsch bedient hat? Vielleicht war er einseitig gelähmt und konnte gar nicht mehr, als nur noch laut atmen, wie der Stimmenrekorder verriet. Vielleicht haben ihm toxische Gase das klare Denken vernebelt und ihn handlungsunfähig werden lassen?
Genauso nachdenklich stimmt mich die neue Zwei-Mann im Cockpit-Philosophie, die hastig und über Nacht von verschiedenen Airlines angeordnet worden ist: Wann immer ein Pilot eines Zwei-Mann-Cockpits selbiges verlassen möchte, muss ein anderes Crewmitglied seinen Platz für die Dauer seiner Abwesenheit einnehmen. Ob das einen mutmaßlichen Kamikazepiloten von seiner Wahnsinnstat abhalten würde, wenn neben ihm eine zarte Flugbegleiterin sitzt?

Es gibt noch so viele ungeklärte Fragen in diesem Fall. Geben wir ihnen die Zeit, die es braucht, um kompetent und fundiert beantwortet zu werden.

Ich habe meinen Teil des Himmels für mich gestern auf dem Flug zurückerobert. Was aber nicht heißen soll, dass ich nicht weiter mit meinen Gedanken zutiefst betroffen und anteilnehmend bei allen Opfern von 4U9525 und ihren Hinterbliebenen bin und auf eine umfassende Klärung hoffe.

1 Kommentar zu “Mein erster Flug nach dem Unglück”

  1. Stefan Mödl schrieb:

    Hallo Kathrin!

    Vorab möchte ich klarstellen, dass ich von Sensationshascherei nichts halte. Aber als Teil des Bergungsteams beim Unglück des Partnair-Fluges 394 im Skagerrak 1989 hat mich die Erfahrung aus den damaligen Erlebnissen bis heute enorm geprägt. Ich entwickelte seitdem eine Verbundenheit zu ähnlichen Tragödien, bei der eine Gier nach Leiden Anderer keine Platz findet. Wir haben damals über 30 Opfer aus dem Wasser gezogen und an Land gebracht, eine Erfahrung fürs Leben, auf die ich auch gerne verzichtet hätte.
    Ich habe das Gefühl, viele Menschen, denen es sehr gut, vielleicht zu gut geht, müssen sich am Schicksal anderer weiden, um sich aufgewertet zu fühlen. Ich kann mir nicht anders erklären, warum man sonst darauf erpicht sein kann, nach schrecklichen Bildern und dramatischen Erzählungen zu lechzen.
    Die Theorie des absichtlich herbeigeführten Absturzes durch den Copiloten scheint sich erhärtet zu haben – was muss der Mann für ein grauenhaftes Leben geführt haben, um es auf diese Art und Weise beenden zu müssen. Seine Eltern, Verwandten und Bekannten tun mir sehr leid, müssen sie doch mit dem Gedanken leben, eventuell etwas bei ihm übersehen zu haben, und sie die Katastrophe vielleicht hätten verhindern können. Sie hätten nichts ändern können!

    Flugzeugunglücke ziehen eine Vielzahl an Menschen in ihren Sog mit: Opfer, Angehörige, Zeugen, Helfer, Kollegen und viele andere, die in irgendeiner Art mit den beteiligten Gesellschaften und Leuten zu tun haben.
    Ich finde es gut, wenn man auch darüber spricht, so wie Sie, ohne es an die große Glocke zu hängen. Ich habe seit 26 Jahren das Bedürfnis, mich mit Leuten auszutauschen, die eine ähnliche Erfahrung durchlebt haben wie ich. Gott sei Dank sind es Wenige, aber immerhin finde ich sie, und bei Ihnen fühle ich mit, und mich dadurch auch verstanden.
    Schön auch, wie sie darüber berichten – mit Betroffenheit, aber doch einen gewissen Abstand wahrend, ohne Hang zum Exhibitionismus.

    Weiterhin allzeit guten Flug, auf bald in Ihrem Blog