Menschen an Bord

Autorin: Kathrin
04.07.2014

Ich finde es immer wieder faszinierend, wie schnell man in relativ kurzer Zeit in ein fremdes Leben eintauchen kann. Sicher geht das auch bei einem lockeren Bierchen an einer Bar oder durch einen Smalltalk beim Diskounter in der Schlange an der Kasse, allerdings wird das Gespräch bei weitem nicht so schnell und intim wie an Bord eines Flugzeuges. Mit intim meine ich keine sexuellen Handlungen, um da keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sondern private Details aus dem Leben unserer Gäste, die man in einem normalen Restaurant, auf einer Bahnreise oder in einem Hotelbetrieb so wohl nicht serviert bekommen würde.

Auf meiner letzten Langstrecke habe ich Frau Ruppig kennengelernt. Sie stand beim Boarden etwas verloren vor ihrem Businessklassesitz: eine weißhaarige Dame, kaum 1,55 m groß und gekleidet in einen weißen Sportanzug aus raschelnder Fliegerseide. Ihre sonnengegerbte Haut zeigte etliche Runzeln und Falten, die Iris der Augen war schon leicht trübe und verschwamm von braun zu grau, so wie das bei sehr alten Menschen vorkommt. Ich sah sie aus dem Augenwinkel mit meiner Kollegin diskutieren und wenig später erfuhr ich auch den Grund ihres Unmuts: Frau Ruppig hatte auf einen Fensterplatz gehofft und fand den ihr zugeteilten Platz nun unbefriedigend in der Mitte der Kabine vor – ohne Aussicht nach draußen. Zum Glück erklärte sich ein müder Geschäftsmann ohne viel Federlesens bereit zu tauschen, mit einem Augenzwinkern trat er seinen Fensterplatz der rüstigen Rentnerin ab, die diesen Divengleich und wie selbstverständlich einnahm. Oje – Nomen est Omen? Wir wurden bestimmt von der Frau Ruppig aufgeklärt, dass sie ja schon 88 Jahre alt sei und die Qualität eines Fensterplatzes durchaus zu schätzen wisse – schließlich könne dies ja auch ihr letzter Flug sein.

Der erste Eindruck von Frau Ruppig saß. Freundlich und wohlwollend war anders. Sie ließ sich von meiner Kollegin haarklein des Inhalt des Kulturtäschchens erklären, nur um ihn danach achtlos beiseite zu wischen, verlangte zackig Decke, mehrere Kissen und auf meine Frage, ob sie später den Kopfhörer noch benötigen würde, erhielt ich die schroffe Antwort, dass sie das doch jetzt noch nicht wisse. Die Menükarte ließ sie sich von mir vorlesen, da sie fast blind sei. Kein Problem, im Betüddeln von Gästen sind wir ja Profis. Auf meine Weinempfehlung zum Fisch zuckte sie nur spöttisch mit den Schultern. „Würde ich ja gerne trinken. Darf ich aber nicht mehr! Bringen Sie mit Leitungswasser!“
„Stilles Wasser, sehr wohl.“ Ich machte einen entsprechenden Vermerk auf meiner Liste.

Zu diesem Zeitpunkt überraschten uns Turbulenzen. Das heißt, eine richtige Überraschung waren sie nicht – die Kollegen aus Deutschland, die uns die Maschine gebracht hatten, waren mit über einer Stunde Verspätung in den USA gelandet, weil das Wetter über dem Teich mal wieder sehr unwirtlich war. Es schüttelte unsere Maschine so stark, dass an einen Service nicht mehr zu denken war und das hielt sich hartnäckig über die nächsten Stunden. Wir verteilten Wasserflaschen, sofern es temporär überhaupt möglich war und übten uns ansonsten in Geduld. Es war spannend zu beobachten, wie anfängliche Probleme in den Hintergrund rückten. Wettererprobte, unerschrockene Vielflieger ergaben sich ihrem schaukelnden Schicksal, wickelten sich in die Decke, lasen ein Buch, schauten einen Film oder dösten vor sich hin. Gäste mit latenter Flugangst versuchten sich entweder nichts anmerken zu lassen, oder suchten das Gespräch als Ablenkung.

Mitten im wildesten Gewackel stand die kleine Frau Ruppig in unserer Küche.
„Du lieber Himmel, halten Sie sich bloß gut fest!“
„Das geht schon. Was muss, das muss…“ Frau Ruppig turnte um die Trolleys herum und verschwand im Waschraum.
„Sagen Sie mal, ist das normal?“, fragte sie mich wenig später, nachdem ich sie zurück zu ihrem Sitz begleitet hatte.
„Sie meinen die Wackelei?“
„Ja, das habe ich so noch nie erlebt. Vor allem nicht so lange. Können wir nicht woanders entlang fliegen?“
Ich hätte auch gerne eine ruhigere Flugstrecke gehabt, leider sah das Wetter fast überall über dem Teich nicht berauschend aus und so konnte ich ihr auch keine großen Hoffnungen auf baldige Besserung machen.
„Wann gibt es denn endlich etwas zu essen?“, rief sie dann ungehalten, „ich muss meine Pillen nehmen!“

Wir hampelten uns weiter durch das unwirtliche Wetter und je weiter der Flug voran schritt, desto mehr schmolz die „ruppige“ Fassade. Als ich ihren Stuhl zur Nachtruhe auf die Liegeposition runterfuhr und ihr die Decke um die Füße wickelte, legte sie ihre Hand auf meinem Arm und sagte: „Danke, lieb von Ihnen!“.

In Düsseldorf angekommen setzte ich mich, nach dem alle anderen Businessgäste schon ausgestiegen waren, zu ihr, um gemeinsam auf den Rollstuhlservice zu warten. Das mit dem Laufen klappte leider bei Frau Ruppig auch nicht mehr so, ich half ihr schon mal in die Strickjacke (so dam’n cold in Germany) und verstaute ihre Handtasche in ihrem Trolley. Wir unterhielten uns über ihre Kinder. Ich fragte, ob sie sie hier besuchen würde? Offenbar lebte die Dame schon länger in den Staaten, da sie auch ständig Deutsch und Englisch verwechselte.
„Nein, ich bei ein halbes Jahr hier und ein halbes Jahr da. Sonst wäre ich in Deutschland schon längst erfroren und schon lange tot. Können Sie mir bitte mal meinen Pass raussuchen? Er steckt da in der Außentasche, neben meinem Führerschein und den Fahrzeugpapieren.“
Ich schaute wahrscheinlich etwas verwundert, denn sie erklärte mir gleich weiter:
„Ohne Führerschein bist du in Amerika ein Nichts. Behinderter als jemand, der im Rollstuhl sitzt. Ich habe da zwar dutzende von Freunden, die sagen, ja, wir fahren dich, wenn du was brauchst. Aber will ich das? Ich finde das furchtbar, so abhängig zu sein!“

Und ich finde es einfach ganz unverantwortlich, dass so alte, gebrechliche Menschen noch mit dem Auto fahren, weil sie ihre Freiheit nicht aufgeben wollen. Vielleicht hat sie es gar nicht gemerkt, wie sehr sie inzwischen auf fremde Hilfe angewiesen ist. Sehr wahrscheinlich will sie es auch gar nicht merken. Es ist sicher nicht einfach, in Würde und mit Verstand alt zu werden. Ich weigere mich bis heute – 41 Jahre jünger als Frau Ruppig – ständig mit der Brille auf der Nase herumzulaufen, weil es ja doch meist noch irgendwie so geht. Es ist nicht immer die Vernunft, die unsere Wege leitet. Ich kann nur hoffen, dass ich rechtzeitig die richtigen Entscheidungen in meinem Leben treffen werde. Es hilft dabei ungemein, wenn man dafür manchmal einen Spiegel vorgehalten bekommt oder auch einfach mal nur für einen halben Tag in das Leben eines anderen hineinschlüpft. An Bord eines Flugzeuges ist alles eng, intensiv, extraordinär – man lernt in sehr kurzer Zeit viel über sich selbst und über andere.

Mit nachdenklichen Grüßen,
Jenny Jetstream