Go around

Autorin: Kathrin
28.04.2014

Vor ein paar Tagen hatte ich einen Flug nach BGO auf dem Plan. Hinter diesem IATA Code verbirgt sich Bergen, Norwegens zweitgrößter Flughafen. Die Hinflugzeit war mit einer Stunde und dreißig Minuten recht rasant berechnet und unser kleiner A 320 bis unter das Dach ausgebucht mit fröhlichen Menschen, die in Kürze einen Urlaub auf dem Schiff antreten wollten. Die Hurtigruten sind ein sehr lohnendes Reiseziel, wenn auch zu dieser Jahreszeit unwirtlich kalt und windig – wir schafften es so eben, das dicke Handgepäck und die voluminöse Wintergarderobe an Bord zu verstauen. Die Stimmung an Bord war heiter und entspannt, den größten Teil der Gäste stellten deutsche und holländische Rentner, die sich mit dem auf diesen kurzen Strecken Standard gewordenen Gedeck „Kaffee, Tomatensaft und Sandwich“ problemlos arrangieren konnten. Die Crew bestand aus erfahrenen Kolleginnen und Kollegen, das Wetter war ruhig – was wollte man mehr?

In einem Augenzwinkern war der größte Teil des Fluges vorbei und die Anschnallzeichen leuchteten auf. Pünktlich zum Landeanflug erwischen uns dann leichte Turbulenzen, so wie es uns die Piloten voraus gesagt hatten, in Bergen sollte es regnen und etwas stürmisch sein. Wir konnten dennoch alle Landevorbereitungen in Ruhe zu Ende führen, die Küchen waren planmäßig aufgeräumt, alle Gäste angeschnallt, „Cabin ready for landing“, wie es so schön in der Fliegersprache heißt.

Zehn Minuten vor Touchdown musste ein Herr aus Reihe 1 nochmal zu Toilette. Eigentlich zu spät – aber was will man machen? Als er sich wieder anschnallte, eierte unser Flieger schon ziemlich hin und her, der Wind hatte in Bodennähe noch einmal ordentlich zugenommen. Das Fahrwerk rumpelte heraus, kurz davor hatte der Kapitän wie üblich den Autopiloten ausgeschaltet – von meiner Sitzposition aus kann ich durch die geschlossene Cockpittür den hellen Warnton hören.

Der Endanflug war dann ein richtiger Eiertanz: die Maschine schlingerte von rechts nach links, sackte durch, fing sich wieder, die Triebwerke jaulten auf, der Schub wurde reingedrückt, zurückgenommen, der Regen klatschte auf die Aluminiumhaut. Die Jungs hatten da vorne ganz gut zu tun, unsere Gäste bekamen dennoch nicht wirklich viel von diesem kleinen Kampf gegen den Wind mit. Erst als wir schon über der Landebahn flogen und wider Erwarten nicht aufsetzten, sondern durchstarteten, gab es viele fragende und ängstliche Gesichter. 2990 Meter Asphalt haben nicht ausgereicht, um unser Flugzeug sicher landen zu können. Der Pilot gab Vollgas, die Motoren dröhnten laut unter Volllast und die Nase unserer Maschine bohrte sich wieder trotzig in den verhangenen Himmel. 30 Knoten Wind von der Seite und zickige Scherwinde zwangen unsere Jungs zu der einzig richtigen Entscheidung: Abbruch des Anfluges – Go around! In dem Moment, als die Schubhebel nach vorne gedrückt wurden, hatte ich schon mein Bordmikrofon in der Hand und machte Sekunden später eine beruhigende Ansage:

„Meine Damen und Herren, der Kapitän hat den finalen Landeanflug abgebrochen und ist durchgestartet. Das war zwar so nicht geplant, kann aber schon einmal vorkommen und ist überhaupt kein Grund, sich Sorgen zu machen. Im Moment sind unsere beiden Piloten sehr beschäftigt, sobald sie eine freie Minute haben, werden wir detaillierte Informationen aus dem Cockpit erhalten. Ich bitte Sie um einen kurzen Moment Geduld.“

Als ich das Bordmikrophon einhängte, schaute mich meine Kollegin, die direkt neben mir auf dem Jumpseat saß, mit großen Augen an und meinte trocken:
„Das habe ich ja noch nie erlebt!“
„Was denn, einen Go around?“
„Nein, das jemand so professionell und vor allem so schnell reagiert hat.“

Danke für die Blumen, liebe Susi, auch ein Purser freut sich mal über kollegiales Lob. Ich habe mich wirklich gefreut, auch wenn ich es für eine Selbstverständlichkeit halte, dass ein Kabinenchef so etwas leisten können muss. Vor jedem Start und jeder Landung geht jeder Flugbegleiter einen sogenannten „30-seconds-review“ durch: Auf welcher Maschine befinde ich mich heute? Wie geht die Tür auf? Geht der Start oder die Landung über Wasser oder über Land? Was rufe ich im Notfall den Gästen zu? Wer von den Passagieren könnte mir helfen? … und so weiter. Als Purser hat man auch noch ein paar Ansagen im Kopf, wie zum Beispiel die, des verpatzten Landeanfluges. Oder die eines Startabbruches, eines Blitzeinschlages, eines Stromausfalles, eines Vogelschlages oder was so spontan mal zwischendurch passieren kann. Manche Dinge muss man einfach erst mal selbst erlebt haben, um souverän und vor allem schnell reagieren zu können – denn die Leute an Bord haben Angst. Und die, die keine Angst haben, fühlen sie sich zumindest unwohl, ratlos und verlangen nach Informationen – was ihr gutes Recht ist. Da diese Auskünfte wegen dem unvorhergesehenen Arbeitsaufkommen nicht sofort aus dem Cockpit kommen können, muss hier zwangsläufig die Kabine einspringen.

Der zweite Anflug, etwa zehn Minuten später, passte dann. In der Zwischenzeit hat unser Kapitän auch die Zeit gefunden, den Gästen die Situation zu erklären, alles war in Ordnung, für uns ein Standardprozedere. Eigentlich habe ich erleichterten Applaus erwartet, aber unsere Senioren waren entweder noch zu sehr mit dem Schreck der Ausnahmesituation beschäftigt oder ganz cool schon mal dabei, die Habseligkeiten zusammenzupacken. Kaum hatte unser Flieger das Gate erreicht, standen sämtliche Passagiere wie üblich im Gang, obwohl die Anschnallzeichen noch gar nicht ausgeschaltet waren. War also anscheinend doch alles nicht so schlimm.

Die Reaktionen beim Aussteigen waren dann aber doch ganz unterschiedlich. Da wir in Bergen eine Fluggastbrückenposition hatten, mussten alle 180 Gäste an mir und meiner Kollegin Susi vorbei defilieren und wie erwartet, sparte man nicht an Kommentaren.
„Müssen wir nun 100 Euro nachbezahlen? Wegen der zwei Anflüge?“, fragte verschmitzt grinsend ein älterer Herr.
„Ach wo, wir haben heute Happy Hour – Zwei Anflüge zum Preis von einem!“
Im persönlichen Gespräch kann man so einen Spruch durchaus bringen, als „lustige Ansage“ finde ich das fehl am Platz, weil man damit Leute, die wirklich unter Flugangst leiden, nicht erreicht.
„Da war der Kapitän ja wohl ein bisschen zu schnell?!“, blaffte ein weißhaariger Mann mit Nickelbrille.
„Nein, wir hatten viel zu viel Seitenwind, um die 30 Knoten, hat der Chef doch gesagt in seiner Ansage…“
„Das glaubt der ja wohl selber nicht. Der war einfach viel zu schnell!“ Kopfschüttelnd und weiter brummelnd verließ der Gast das Flugzeug.
Eine blonde Rentnerin fasste mich beim Arm, mit feuchten Augen und zitternder Stimme hauchte sie:
„Das war aber knapp, oder?“
„Nein, das war gar ein Problem. Das kann schon einmal vorkommen“, versuchte ich, sie zu beruhigen.
„Nein! Das war ganz knapp! Ich habe so etwas noch nie erlebt!“ Ein fuchtelnder Zeigefinger fuhr mir bestimmt vor die Nase.
„Glauben Sie mir, dass habe ich in 25 Jahren Fliegerei schon öfters erlebt, das war wirklich kein Grund zur Sorge …“
„Ich noch nie! Noch nie!“ Auch sie schüttelte energisch den Kopf und war sichtlich bewegt.

Viele Gäste waren voll des Lobes. Witziger Weise kassierte dies der Rampagent, der in seiner neongelben Wetterjacke neben uns stand und zum Spaß mit die Gäste verabschiedete, die Cockpittür war immer noch verschlossen.
„Tolle Leistung“, nickte anerkennend ein junger Mann.
„Kein Problem“, grinste der Rampagent in fast perfektem Deutsch. „Dafür werde ich ja bezahlt!“
„Sie sind wirklich super geflogen!“
„Prima Landung!“
Aber wir hörten auch kritische Stimmen:
„Sie fliegen wohl noch nicht so lange, wie?“
„War das wirklich unbedingt nötig? Wir haben uns zu Tode erschrocken!“

Eine kleine ältere Dame, die ihr schneeweißes Haar als exakten Prinzeisenherzschnitt trug, stiefelte in einer dicken, hellblauen Jackwolfskin-Jacke auf uns zu, strahlte uns an und rief entzückt:
„Das hat eben richtig Spaß gemacht! Ich fand das prima!“
Wahrscheinlich war sie die einzige an Bord, die dem Go around wirklich etwas vergnügliches abfinden konnte.

Der Tenor der meisten Gäste war recht entspannt und ein paar von ihnen sprach das aus, was ich mir gewünscht hatte:
„Wir haben uns sehr gut bei Ihnen aufgehoben gefühlt, vielen Dank.“

Na, bitte, dann haben wir ja alles richtig gemacht. Ein gutes Gefühl.

Mit stürmischen, aber sonnigen Grüßen,
Eure Jenny Jetstream